Schlagwörter
Ich reagiere allergisch, wenn Leute, die mir vollkommen unbekannt sind, meinen, sich um mich sorgen zu müssen. Das gilt erst recht, wenn es diesen Leuten gar nicht um mich geht und auch nicht um die vielen anderen, die gleichzeitig mit mir angesprochen und umsorgt werden.
Aufgefallen ist mir das zuerst bei der Deutschen Bahn. Da werden nicht die deutschen, wohl aber die englischsprachigen Fahrgäste am Zielbahnhof immer häufiger mit den Worten verabschiedet: „Take care“. Worauf sollen diese Passagiere aufpassen? Doch wohl nicht auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante (da würde man „mind the gap“ sagen). Auf sich selbst, wahrscheinlich. Aber was interessiert das die Deutsche Bahn? Mit welchem Recht mischt sie sich in das Leben ein, das die Passagiere nach abgeschlossener Bahnfahrt führen? Und wieso sollten die Passagiere auf Ratschläge hören, die ihnen Sprecher der Deutschen Bahn verkünden? Sollen die Passagiere der Bahn gar dafür danken, sie daran erinnert zu haben, auf sich aufzupassen?
Nicht weniger schlimm ist es bei Easyjet. Seit einiger Zeit klingt es nach den Anweisungen, wie man sich im Notfall verhalten soll, jetzt standardmäßig aus den Lautsprechern: „Und nun lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich und genießen Sie den Flug!“ Abgesehen davon, dass man sich weder bequem zurücklehnen noch auf Befehl entspannen noch gar den Flug genießen kann – was zum Teufel geht es die Fluggesellschaft an, wie ich während des Flugs sitze und womit ich mich beschäftige? Ich werde doch wohl noch gerade sitzen und lesen, stricken oder arbeiten dürfen.
Ich empfinde diese Botschaften als in höchstem Maße unerwünschte Übergriffe in mein Privatleben.
Es ist der Spätkapitalismus, Dorothea. Die Ware ist nicht für uns da, sondern wir sind da für die Ware. Im Wirtschaftsgeschehen spielen wir eine Statistenrolle und haben zu tun, was der Regisseur befiehlt. Insofern ist der – wahrscheinlich unfreiwillige – Befehlston dieser Werbung („Und nun lehnen Sie sich zurück“) eigentlich aufrichtig.
Aufrichtig aus der Sicht der Spätkapitalisten. Der normale Fluggast sieht sich aber nicht als Statist, sondern als Hauptperson. Er betrachtet den Flug als seine Reise, bei der er sich der Fluggesellschaft bedient, nicht umgekehrt. Das Seltsame ist, dass die meisten Passagiere sich – unabhängig von der Tageszeit und von der Dauer des Flugs – tatsächlich zurücklehnen, entspannen und den Flug zwar wahrscheinlich nicht genießen, aber zumindest mehr oder weniger verschlafen. Das müsste man auch mal interpretieren …
Wie würden die Passagiere wohl reagieren, wenn die Durchsage lautete: “Und nun setzen Sie sich gerade hin, vergessen Sie den Flug und konzentrieren Sie sich auf Ihr Buch“?
Mein Sohn hat gerade bemerkt, wie seltsam es doch ist, dass die Fluggesellschaft genau dann zu Entspannung und Genuss aufruft, nachdem sie über die Risiken des Fliegens und das Verhalten im Notfall aufgeklärt hat und dass die Passagiere dann doch eigentlich in höchstem Maße beunruhigt sein müssten. – In einem Krimi von Peter James habe ich übrigens die Erklärung dafür gefunden, warum man in einer Gefahrensituation den Kopf mit den Händen schützen soll („brace, brace“): Die Leichen lassen sich am einfachsten anhand ihres Gebisses identifizieren.
Garnier natural beauty Shampoo Olivenöl und Zitrone, Tiefenpflege & Seidiger Glanz schreibt zur Anwendung folgendes: „Sanft ins Haar einmassieren, den sanften Duft geniessen, dann ausspülen“. Damit das klar ist. Man steht ja nicht aus Spaß unter der Dusche.
Ja, für Flüge gilt auch eher, dass man sie in Kauf nimmt, um schnell von A nach B zu kommen, als dass man sich wirklich darauf freut und sie genießt. Aber es wird so getan, als wäre der Flug ein Zweck an sich selbst. Wie hier das Haarewaschen. Interessant, wie beide Male der Übergang von der Gebrauchsanweisung des Produkts zur Einmischung in das Gefühlsleben (wie soll man es sonst nennen?) vollzogen wird.
Interessant auch die Gleichzeitigkeit von offener Unverschämtheit und gesellschaftlichem Verdecktsein. Es sind Phänomene, die im klassischen Sinne tabuiert sind. Es ist offen da, aber es wird nicht darüber geredet.
In die gleiche Richtung gehen jetzt die Benachrichtungen von Ebay. Während es früher – schlimm genug – hieß: „Herzlichen Glückwunsch, der Artikel xyz gehört Ihnen! – lautet die Mitteilung bei gewonnenen Auktionen und getätigten Sofort-Käufen seit Mai 2012: „Viel Spaß mit + Artikelname (im Nominativ)“. Abgesehen davon, dass die Grammatik dabei völlig den Bach runtergeht („mit“ steht mit dem Dativ), ist das natürlich auch inhaltlich vollkommen unangebracht. Es mag ja sein, dass man sich an dem ein oder anderen Artikel erfreut, vielleicht an einem Katzenspielzeug oder an einem T-Shirt mit einem Snoopy-Aufdruck, aber wer hat Spaß an einem Wollknäuel, an einem Paar Socken, an einem Taschenrechner oder an einem Paket Inkontinenz-Windeln?
Das bedeutet doch, dass der Ton in der Gesellschaft angegeben wird von Gruppen wie der der untersten-Ebene-Werbefachleute, deren Qualifikation in keinem Verhältnis zu ihrer Wirkmacht steht. Diese Gruppen ausfindig zu machen wäre soziologisch sinnvoll. Journalisten gehören dazu, Börsianer gehören dazu. Der Gipfel der Unsäglichkeit in dieser Hinsicht sind ehemalige Nachrichtensprecher, die, gesellschaftlich nach oben gefallen (weiß Gott, warum), ihre moralischen Ansichten und ihre Vorliebe für Frankreich feilbieten. Und der Sch… wird gekauft.
Ja, aber diese Bücher muss man nicht kaufen, man muss sie nicht einmal wahrnehmen, wenn es einen nicht interessiert. Der Ebay-Benachrichtigung hingegen kann man nicht entgehen, sie wird jeden Tag millionenfach gelesen oder zumindest zur Kenntnis genommen, und auch die Durchsage im Flugzeug wird millionenfach gehört. Es wäre spannend, zu untersuchen, wie die Leute das wahrnehmen und welche (langfristigen) Folgen diese Art der Ansprache hat. Ich bin sicher, sie hat Folgen.
Ich glaube, die wichtigste und schwerwiegendste Folge ist, dass der Dauerbeschuss mit diesen Pseudo-Kommunikationen wirkliche Individuierung verunmöglicht. Wir kommen über Kollektiv-Identitäten nicht hinaus. Das würde auch erklären, weshalb wir uns nicht wehren. Für mich war ein siebenwöchiges Medienfasten sehr spannend, weil mir die ganze Verlogenheit auch der ernsten Presse so viel klarer wurde. Man müsste gucken, was Ichstärke aufbaut im Leben, und gesellschaftlich.